Jedes Jahr, wenn ich zum ersten Mal
ins Becken steige, (noch nie war ich ein Springer) und kurz vor Kälte nach Luft schnappe, nein, früher schon, wenn ich durchs Drehkreuz gehe, an den
Schließfächern vorbei, vorbei auch am Kinderbecken und am Schild: Eisverkauf
hier, spätestens, wenn ich in meine
Flipflops schlüpfe und durch das Zwischenbecken wate, geht es mir ähnlich, wie
Marcel in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als er sich jenes berühmte aufgeweichte Stück Madeleine in den
Mund steckt. Ich entere einen saisonalen Kosmos.
Im Freibad treffen sich Jahr für
Jahr Menschen, die gemeinsam Bahnen ziehen, kreuz und quer, dabei haben sie im
richtigen Leben, das sich irgendwo jenseits des Beckenrands im Schatten
ausruht, nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun oder gemeinsam.
Man sieht sich, man nickt und
lächelt, grüßt im Vorbeischwimmen oder – obwohl man sich gerade ungeschickt im
Badeanzug verheddert hat und oben ohne dasteht – in der Sammelumkleide. Es gibt kaum
einen Ort, wo die Menschen echter sind. Es scheint fast so, als könnten sie
hier einen Sommer lang ihre Alltagsrüstungen ablegen und ganz sie selbst sein
plus eine Schicht Sonnencreme.
Die flotten Damen um die 70 in
floralen Ensembles. Die Krimileser mit Sonnenhut auf der Bank am Beckenrand,
die sich ärgern, wenn es spritzt. Die Familien mit Kühltaschen und gestreiften
Sonnenschirmen. Die autistischen Rückenschwimmer, die rücksichtslosen Krauler,
die tiefenentspannten Schleicher, die irgendwie exotischen
Schmetterlingsschwimmer, der nur nebenbei zufällig auch noch schwimmende
Kochrezepte-Club.
Die attraktiven Frauen mittleren
Alters, die heimlich, so denken sie, aber eigentlich doch ziemlich
offensichtlich in den neuen Bademeister verknallt sind, für eine Saison, bevor
der nächste kommt und sie im Winter auf ihren Heimtrainern schwitzen und
nebenbei fernsehen. Die Mutigen, die einen Sprung wagen – zum ersten Mal, oder
nach langer Zeit –, die dann mit
dem Springen gar nicht mehr aufhören wollen.
Die Freundinnen-Duos, die insgeheim
die Brüste der jeweils anderen bewundern, beim Haarewaschen unter der Dusche.
Die Alleinschwimmer, die ihre Bahnen und hinterher sofort in ein Handtuch
gewickelt in Richtung Umkleide ziehen.
Die Brustschwimm-Mädchen, die den
Kopf immer über Wasser halten.
Die Männer mittleren Alters, die
denken, sie könnten Kraulen.
Die bäuchlings auf der Wiese
liegenden Kinder mit Comics und Pommes in der Hand.
Man selbst irgendwo dazwischen.
Mittendrin.
Mit jedem Schluck Chlorwasser,
versehentlich inhaliert, werden sie deutlicher, die Bilder der
vergangenen, glücklichen Sommertage. Als man noch Kind war und nichts anderes
zählte, als die einem endlos erscheinenden Ferien, ganz egal ob man wegfuhr
oder nicht, bloß musste man oft genug die Eltern überreden, zusammen oder
einzeln Taschen, Wolldecken Handtücher und Obst zu packen für einen
Tagesausflug ins Freibad. Dann, schon älter, freute man sich sechs Wochen lang
am getunkt werden und tunken von jemandem, für den man aktuell schwärmte und
den man dann zum Kiosk schickte für ein Cola-Wassereis. Später half das
Schwimmen auch an tristen Tagen, kaum Tröstlicheres, als im Nieselregen fast
allein zwanzig Mal hin und her zu schwimmen und dabei allem Ärger davon.
Wie durch einen Schleier sehe ich
sämtliche Sommer als Ganzes. So verschwommen, als ob ich zu lange mit offenen
Augen getaucht bin und weil alles, was man sehr mag, nur unscharf zu erkennen
ist, wenn man es sich vorzustellen versucht.
So erklärte mir’s einmal jemand,
den ich mir im Freibad nicht vorstellen kann, ich weiß nicht wieso. Er belegte
die Unschärfe der Erinnerung natürlich mit Proust, der sagte, man stellte sich
die Menschen (und Dinge) die man liebt stets in Bewegung vor.
Ich schwimme mit zugekniffenen
Augen zur Leiter am Rand des Beckens, stoße dabei versehentlich mit einer
Schwimmerin zusammen, wir entschuldigen uns beide, lächeln, wissen Bescheid.
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