everyday is like sunday

Sonntag, 21. Juli 2013

Freibadmenschen

Jedes Jahr, wenn ich zum ersten Mal ins Becken steige, (noch nie war ich ein Springer) und kurz vor Kälte nach Luft schnappe, nein, früher schon, wenn ich durchs Drehkreuz gehe, an den Schließfächern vorbei, vorbei auch am Kinderbecken und am Schild: Eisverkauf hier, spätestens, wenn ich in meine Flipflops schlüpfe und durch das Zwischenbecken wate, geht es mir ähnlich, wie Marcel in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als er sich jenes berühmte aufgeweichte Stück Madeleine in den Mund steckt. Ich entere einen saisonalen Kosmos.

Im Freibad treffen sich Jahr für Jahr Menschen, die gemeinsam Bahnen ziehen, kreuz und quer, dabei haben sie im richtigen Leben, das sich irgendwo jenseits des Beckenrands im Schatten ausruht, nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun oder gemeinsam.
Man sieht sich, man nickt und lächelt, grüßt im Vorbeischwimmen oder – obwohl man sich gerade ungeschickt im Badeanzug verheddert hat und oben ohne dasteht – in der Sammelumkleide. Es gibt kaum einen Ort, wo die Menschen echter sind. Es scheint fast so, als könnten sie hier einen Sommer lang ihre Alltagsrüstungen ablegen und ganz sie selbst sein plus eine Schicht Sonnencreme.

Die flotten Damen um die 70 in floralen Ensembles. Die Krimileser mit Sonnenhut auf der Bank am Beckenrand, die sich ärgern, wenn es spritzt. Die Familien mit Kühltaschen und gestreiften Sonnenschirmen. Die autistischen Rückenschwimmer, die rücksichtslosen Krauler, die tiefenentspannten Schleicher, die irgendwie exotischen Schmetterlingsschwimmer, der nur nebenbei zufällig auch noch schwimmende Kochrezepte-Club.
Die attraktiven Frauen mittleren Alters, die heimlich, so denken sie, aber eigentlich doch ziemlich offensichtlich in den neuen Bademeister verknallt sind, für eine Saison, bevor der nächste kommt und sie im Winter auf ihren Heimtrainern schwitzen und nebenbei fernsehen. Die Mutigen, die einen Sprung wagen – zum ersten Mal, oder nach langer Zeit –,  die dann mit dem Springen gar nicht mehr aufhören wollen.
Die Freundinnen-Duos, die insgeheim die Brüste der jeweils anderen bewundern, beim Haarewaschen unter der Dusche. Die Alleinschwimmer, die ihre Bahnen und hinterher sofort in ein Handtuch gewickelt in Richtung Umkleide ziehen.
Die Brustschwimm-Mädchen, die den Kopf immer über Wasser halten.
Die Männer mittleren Alters, die denken, sie könnten Kraulen.
Die bäuchlings auf der Wiese liegenden Kinder mit Comics und Pommes in der Hand. 

Man selbst irgendwo dazwischen. Mittendrin.
Mit jedem Schluck Chlorwasser, versehentlich inhaliert, werden sie deutlicher, die Bilder der vergangenen, glücklichen Sommertage. Als man noch Kind war und nichts anderes zählte, als die einem endlos erscheinenden Ferien, ganz egal ob man wegfuhr oder nicht, bloß musste man oft genug die Eltern überreden, zusammen oder einzeln Taschen, Wolldecken Handtücher und Obst zu packen für einen Tagesausflug ins Freibad. Dann, schon älter, freute man sich sechs Wochen lang am getunkt werden und tunken von jemandem, für den man aktuell schwärmte und den man dann zum Kiosk schickte für ein Cola-Wassereis. Später half das Schwimmen auch an tristen Tagen, kaum Tröstlicheres, als im Nieselregen fast allein zwanzig Mal hin und her zu schwimmen und dabei allem Ärger davon.

Wie durch einen Schleier sehe ich sämtliche Sommer als Ganzes. So verschwommen, als ob ich zu lange mit offenen Augen getaucht bin und weil alles, was man sehr mag, nur unscharf zu erkennen ist, wenn man es sich vorzustellen versucht.
So erklärte mir’s einmal jemand, den ich mir im Freibad nicht vorstellen kann, ich weiß nicht wieso. Er belegte die Unschärfe der Erinnerung natürlich mit Proust, der sagte, man stellte sich die Menschen (und Dinge) die man liebt stets in Bewegung vor.
Ich schwimme mit zugekniffenen Augen zur Leiter am Rand des Beckens, stoße dabei versehentlich mit einer Schwimmerin zusammen, wir entschuldigen uns beide, lächeln, wissen Bescheid.

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